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03/2023 Volle Kraft voraus!

BAUEN

Wie die zirkuläre Bauweise funktioniert

Das Science- und Erlebniscenter «Primeo Energie Kosmos» widmet sich in Münchenstein den Themen Klima und Energie. Und setzt selbst ein Zeichen: Von den Architekten der Rapp AG aus Basel geplant, zeigt es innen wie aussen, was zirkuläres und nachhaltiges Bauen bedeutet.

Text Gisela Graf Communications Bilder Beat Ernst

 

Panta rhei, alles fliesst: Die Stofflichkeit der Welt ist ein fortwährender Prozess. Auch das Bauen kann als ständiger Fluss begriffen werden – zumindest, wenn es im Sinne einer Kreislaufwirtschaft praktiziert wird. Wenn nun ein Energielieferant, der sich für Nachhaltigkeit engagiert, ein Wissensvermittlungs-Center plant, mit dem das Bewusstsein für Energiewende und Klimaneutralität geschärft wird, ist es nur konsequent, das Gebäude selbst vorwiegend zirkulär zu erbauen. So geschehen in Münchenstein bei Basel: Die Architekten der Rapp AG aus Basel haben für Primeo Energie das Science- und Erlebniscenter «Primeo Energie Kosmos» unter anderem aus recycelten Materialien erstellt.


In früheren Zeiten war es eine durchaus übliche Praxis, Baumaterialien von Ruinen und Abbruchhäusern für Neubauten als Spolien (siehe Box) einzusetzen. Erst mit fortschreitender Technisierung, der leichteren Gewinnung von Rohstoffen und Herstellung von (Verbund-)Materialien hat die Gesellschaft verlernt, mit Baustoffen sparsam und ökologisch umzugehen, indem sie diese mehrfach verwendet. Angesichts des Klimawandels und des hohen CO2-Ausstosses, an dem die Bauwirtschaft wesentlich beteiligt ist, findet zurzeit aber eine Umbesinnung statt. Es gibt Architekturbüros, die sich bereits intensiv mit Recycling und Re-Use von Bauteilen befassen und auf ihrem Weg zurück in die Zukunft erste Erfahrungen sammeln, so auch die Architekten der Rapp AG aus Basel. Doch die Spolien von heute sind keine Marmorblöcke oder Säulenschäfte, sondern – wie im Fall des Primeo Energie Kosmos – ausgediente Hochspannungsmasten, ehemalige Bootshausdielen und ausrangierte Waschbecken.


Der Primeo Energie Kosmos ist ein Science- und Erlebniscenter für Bildung und Wissensvermittlung, in dem alle Interessierten und insbesondere Schülerinnen und Schüler aller Altersklassen die Themen Klima und Energie interaktiv erleben können. Anlässlich des 125-Jahre-Jubiläums der EBM (Genossenschaft Elektra Birseck Münchenstein) wurde das bereits bestehende Elektrizitätsmuseum saniert und mit einem Neubau ergänzt. Die Eröffnung des gesamten Komplexes fand im Oktober 2022 statt. Sowohl im sanierten und modernisierten Altbau wie auch im Neubau ist erlebbar, was der Klimawandel bedeutet und wie die Energiewende geschafft werden kann. Neben einer rund 45-minütigen Erlebnisshow im ehemaligen Elektrizitätsmuseum stehen im Neubau auf zwei Stockwerken ausgewählte Experimentierstationen rund um Phänomene zu Klima- und Energiethemen zur Verfügung.


Wiederverwendete Bauteile

Auch das Gebäude selbst macht die Themen Klimaschutz, Energie und Nachhaltigkeit erlebbar: Mehr als zwei Drittel seiner Bauteile sind wiederverwendet, recyclebar oder aus nachwachsenden Rohstoffen und stammen, wann immer möglich, aus der Region, um graue Energie zu vermeiden. Wenn Re-Use aus statischen, juristischen oder wirtschaftlichen Gründen nicht möglich war, so sollte das neue Material selbst wiederverwertbar sein, damit es in der Zukunft dem Kreislauf zugeführt werden kann – also hochwertig und von dauerhafter Qualität, sortenrein und unbehandelt. Ein recycliertes Gebäude, das selbst wieder recyclebar sein wird, war das erklärte Ziel.


Holz-Skelettbau mit grossen Spannweiten
Das dreigeschossige Hauptvolumen ist als reiner Holz-Skelettbau realisiert – mit grossen Spannweiten von gut sieben Metern. Das Fundament besteht aus einer Betonplatte mit Frostschürzen und Pfählen. Die Holzstruktur, errichtet von der Stamm Bau AG aus Arlesheim (BL), basiert auf einem quadratischen Grundriss von rund 15 auf 15 Metern, der in vier Quadranten geteilt ist. Alle Decken sind auf einem Trägersystem aufgebaut, das von einem mittleren Pfeiler aus Baubuche getragen wird. Die komplette Balkenstruktur der Decken ist sichtbar. Die Aussenwände bilden einen Teil der tragenden Struktur. Um möglichst viel Energie sparen zu können, liegen alle notwendigen Verkehrswege (Fluchttreppen, Gänge und Lift) ausserhalb des Dämmperimeters. Durch die Laubengänge, welche die Konstruktion festlegen, ist das Gebäude in klar getrennte Nutzungsbereiche aufgeteilt. Der kompakte Baukörper ermöglicht eine kleinere Energiebezugsfläche. So liessen sich Kosten reduzieren.


Alte Holzdielen aus dem Bootshaus

Die Konstruktion des roh belassenen und unverkleideten Massivholzes aus der Region ist im Innern sichtbar. Im zweigeschossigen Luftraum ragt eine Spindeltreppe aus Stahl empor. Für den Treppenbelag wurde das Holz wiederverwendet, das von der eigenen provisorischen Bautreppe übriggeblieben war. Die Holzdielen in den Obergeschossen stammen zur Hälfte von einem Bootshaus, das 1911 in Kaiseraugst (AG) gebaut worden war. Andere alte Bauteile im Innenausbau kommen aus der Bauteilbörse im Basler Stadtteil Klybeck, darunter eine komplette Küche. Alle Nasszellen sind fast ausschliesslich mit ausrangierten Elementen eingerichtet, zum Beispiel die Waschbecken, Trennwände und Armaturen. Die gefliesten Oberflächen stammen aus Restposten beziehungsweise aus aussortierten Produktionen. Das gesamte Beleuchtungskonzept basiert auf Leuchten aus Abrissobjekten, die teilweise repariert und mit modernen LED-Leuchtmitteln bestückt wurden. Auch bei der Fassadenverkleidung des Holzbaus konnte auf Restmaterial einer anderen Baustelle, einer grossen Wohnsiedlung im Raum Luzern, zurückgegriffen werden. Der günstige Verschnitt aus Kompaktlaminat bestand aus unterschiedlich kleinen Teilen, was einen Mehraufwand bei der Planung und Montage sowie ästhetische Kompromisse erforderte.

Ausrangierte Strommasten
Eine zentrale Rolle spielen die 60 Jahre alten Hochspannungs-Gittermasten, die dem Netzbetreiber Swissgrid als Schrottmaterial abgekauft wurden. Anstatt eingeschmolzen zu werden, ummanteln sie jetzt die Laubengänge, die eine ebenfalls stählerne Gitterstruktur rund um den hölzernen Kubus bilden. Ursprünglich sollten die gebrauchten Masten tragend eingesetzt werden, doch da die aussenliegenden Gänge auch als Fluchtweg dienen, liessen die Baubestimmungen dies nicht zu. So bilden die ehemaligen Strommasten jetzt ein Rankgerüst für Kletterpflanzen, was wiederum der Verschattung und damit dem (Raum-)Klima dient. Zudem sind die Laubengänge eine nicht zu beheizende Erschliessungszone, sodass das Innenvolumen reduziert werden konnte. Das Masten-Motiv wiederholt sich im Innenraum an den Brüstungen.

Umgekehrter Planungsprozess
Um all die vielen unterschiedlichen Bauteile und Materialien koordinieren zu können und bei Bedarf zu variieren, arbeiteten auch die Architekten der Partnerbaustellen mit detailliert ausgearbeiteten, digitalen Modellen. Die Mengen und Geometrien des Restmaterials wie etwa der Fassadenplatten waren damit frühzeitig planbar. Denn der Planungsprozess wird bei dieser Bauweise gewissermassen umgekehrt: Er muss sich an den vorhandenen Bauteilen orientieren und sich entsprechend anpassen. Spätestens jetzt wird deutlich, dass das Planen und Bauen der Zukunft als Prozess verstanden werden muss, denn von allen Akteuren erfordert es viel Flexibilität sowie die Bereitschaft zum Umdenken und zu Kompromissen. Die Mehrkosten für die Planung und die notwendige qualifizierte handwerkliche Arbeit werden durch die geringeren Materialkosten wieder ausgeglichen. Es findet also, obwohl die Baukosten unter dem Strich mit einem konventionellen Neubau vergleichbar sind, eine Verlagerung der Wertschöpfung statt: hin zum Handwerk und zu einer neuen Rolle des Architekten – und zur Digitalisierung. Denn das eigentlich traditionelle zirkuläre Bauen kann durch digitale Prozesse einfacher und effizienter werden. So können viele Bauteile im Kreislauf bleiben, und der Gedanke des Philosophen Heraklit (ca. 520–460 v. Chr.), dass alles fliesst, findet hier seine architektonische Entsprechung.

Bauprojekt als Teil einer Studie
Das Bauprojekt ist Teil einer Studie des Schweizer Bundesamts für Energie (BFE). Dieses analysiert, wie gross die wirtschaftlichen und nachhaltigen Auswirkungen einer Kreislaufwirtschaft auf den gesamten Lebenszyklus von Bauprojekten tatsächlich sind.
stamm-bau.ch, rapp.ch

Primeo Energie Kosmos

Das Science- und Erlebniscenter Primeo Energie Kosmos ist ein Projekt der Primeo Energie, die 1897 als Genossenschaft EBM gegründet wurde. Das Unternehmen hat den Hauptsitz in Münchenstein (Schweiz) und eine Niederlassung in Paris. Es entwickelt Energielösungen für Privat- und Geschäftskunden, Energieversorgungsunternehmen, Städte und Gemeinden. Mehr als 600 Mitarbeitende versorgen in der Schweiz und in Frankreich über 170 000 Kunden mit Energie. Das Science Center bietet 17 Mitmachstationen, eine Energieshow und Führungen. Auch im Museumsneubau werden die beliebten Solarauto- und
Bastelworkshops sowie die Firmenanlass- und Kindergeburtstagsangebote weitergeführt. primeo-energie.ch


Science- und Erlebniscenter

Bauprojekt: Erweiterungsbau Primeo Energie Kosmos, Münchenstein (BL)
Bauherrschaft: EBM (Genossenschaft Elektra Birseck Münchenstein), Münchenstein
Architektur: Rapp AG, Münchenstein
Bauzeit: August 2021 – März 2022
Forschungspartner: EPFL Structural Xploration Lab, Lausanne
Generalplaner: Rapp AG, Basel
Holzbau und Fassade: Stamm Bau AG, Arlesheim (BL)
Fenster und Eingangstüren: Gerber-Vogt AG, Allschwil (BL)
Innentüren aus Holz: Jäggi AG, Arlesheim
Bodenbeläge aus Holz: Stamm Bau AG, Arlesheim
Gebäudehöhe: 10,30 m (Faradayfassade ca. 13 m)
Grundrissmasse: 15,5?m?×?15,5 m
Bruttogeschossfläche: 1592 m² (Aussengeschossfläche: 920 m²,
Nettonutzfläche: 580 m²)
Fassadenfläche: 639 m²
Dachfläche: 241 m² (Flachdach/Terrasse)
Energiekonzept: PV-Anlage auf dem Dach (235 m² Fläche) mit 12 kWp
Stromproduktion der PV-Anlage pro Jahr: 12?800 kWh


SPOLIEN

Spolien (von lateinisch spolium: Beute, Raub, dem Feind Abgenommenes) sind Bauteile und Überreste von zum Beispiel Reliefs und Skulpturen, Friesen und Architravsteinen sowie von Säulen und Kapitellen, die aus Bauten älterer Kulturen stammen und in neuen Bauwerken wiederverwendet werden. Der Einbau von Spolien kann – neben dem praktischen Nutzen – auch als Übertragung einer Tradition gemeint sein, wenn sie aus dem Vorgängerbau übernommen werden und als «Reliquien» an hervorgehobener Stelle am Neubau wieder auftauchen. […] Ein bruchstückhafter, versteckter oder verkehrter Einbau einer Spolie kann auch als demonstrative Kennzeichnung der Überwindung einer Vorgängerkultur aufgefasst werden. Auf die Architektur übertragen wurde der Begriff erstmals in der Renaissance. Quelle: wikipedia.org/wiki/Spolie